Sonntag, 12. Juli 2009

Option und Schulen im Krieg - Erinnerungen an die „Reichsschule für Volksdeutsche“ in Rufach

Unter dem Titel „Schönes Rufach[i]“ brachte die „Neue Südtiroler Tageszeitung“ am 19.12.02 einen Leitartikel zu einer Sendung der RAI, in der zum Thema der 1940 für schulpflichtige und studierende Söhne der Optanten in Rufach (heute Rouffach) im Elsaß am Fuße der Vogesen eingerichteten „Reichsschule für Volksdeutsche“[ii] , zu der 1941 auch eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ (Napola)[iii] dazu kam. Ein gleichartiges Institut (ebenfalls „Anstalt“ genannt) wurden für Mädchen in Achern in Baden am Osthang des Schwarzwaldes eingerichtet.
Eine lockere Runde von ehemaligen Insassen, begleitet von Original (allerdings stark zensierten und damit „geschönten“) Filmberichten plauderte über ihre Erinnerungen an diese Zeit. Da sie diese im tirolischen Jargon u.a. auch als „barig“ bezeichneten, riefen sie den Widerspruch des Unterzeichneten herauf, der aus gegebenem Anlass nachstehend von seinen eigenen Erlebnissen, zusammen mit zeitgeschichtlich belegtem Hintergrund berichtet. Vom „schönen Rufach“ bleibt wenig übrig.

Gleich vorweg: ich bin Jahrgang 1931 und war im Oktober 1941 (also im Alter von 10 Jahren), mit dem sog. „2. Transport“ nach Rufach gekommen und war dort mit zwei älteren Brüdern bis Sommer 1943 als Schüler der „Reichsschule für Volksdeutsche“ = Oberschule 1. und 2. Klasse. Meine Eltern waren inzwischen ausgewandert und so wechselte ich in die Oberschule nach Bregenz. Ebenfalls vorweg: für mich (und für die meisten meines Alters) war die Zeit in Rufach keineswegs „bärig“, sondern die düsterste Zeit meiner Jugend. Schlimmer als die gesamte Zeit unserer Abwanderung „heim ins Reich“ von 1942 bis 1947.

Ist „Rufach“ tabu in der Schulgeschichte Südtirols?
Es gibt zum Thema der „Südtiroler Schulgeschichte 1939-1945 eine Reihe von Büchern und Veröffentlichungen. „Rufach“ scheint jedoch ein Tabuthema zu sein, denn keines der Bücher (zumindest der mir bekannten) berichtet zu dieser Schule in gebührendem Umfang. Es gibt eine umfangreiche, wissenschaftliche Arbeit als Diplomarbeit[iv] an der Universität in Innsbruck. Ein Sonderheft des „Föhn“ mit dem Titel „Südtirol 1939-45 Option, Umsiedlung, Widerstand“ mit einer Einleitung von Leopold Steurer, ist u.a. dieser Frage gewidmet, eine Sammlung von interessanten Dokumenten der Zeitgeschichte ist darin zu finden. Letzterer hat auch weitere Einzelberichte zu diesem Thema verfasst.

Bild 1 „Auslese“ Lager auf der Seiser Alm

Bild 2 Auch die künftige Prominenz ist dabei (1941)

Von den seinerzeit verantwortlichen Akteuren lebt keiner mehr und die betroffenen Schüler sind inzwischen auch schon 70-80 Jahre alt, so dass ein Informationsbedarf gegeben scheint Auch hat keiner von Ihnen eine schriftliche Berichterstattung dazu hinterlassen. So scheint der nachfolgende Erlebnisbericht die einzige Auslassung dieser Art zu sein und soll dazu beitragen, der Simplifizierung entgegenzuwirken, und das „Rufach“ als einschneidendes Erlebnis einer ganzen Generation von Südtiroler Oberschülern in der Zeit des schlimmsten Bildungsnotstandes zu Beginn des letzten Krieges darzustellen. Schilderungen persönlicher Erlebnisse sollen das gegebenenfalls unterstützen.

Die Option und Ihre Folgen für den Schulbetrieb
Die leidige Option hat bekanntlich ihren Ursprung in einer Vereinbarung vom 23. Juni 1939 zwischen Hitler und Mussolini. Zu dieser Vereinbarung gab es Monate später eine Durchführungsbestimmung mit dem Titel: „Richtlinien für die Rückwanderung der Reichsdeutschen und Abwanderung der Volksdeutschen aus dem „Alto Adige“ in das Deutsche Reich. Zur Schulfrage finden wir darin folgende Festlegung:

„Den abwandernden Eltern ist es, sobald sie die Deutsche Reichangehörigkeit erworben haben[v], erlaubt, ihren Kindern vor der Abwanderung deutschen Privatunterricht geben zu lassen, unter Beobachtung der hierfür im Königreich Italien geltenden Bestimmungen.“


Zur Lösung der organisatorischen Fragen zum Schulproblem wurde in Bozen die u.a. ADERST (Amtliche Deutsche Ein- und Rückwandererstelle) unter Heinz Deluggi, dem Lehrer Albert Strobl und später in der ADO auch Norbert Mumelter beauftragt. Prof. Dr. Josef Strobl wurde mit der Kontaktierung der Stellen im Deutschen Reich beauftragt[vi]. Die Schulbildung hatte katastrofale Formen angenommen. Dazu berichtete Deluggi an die ADERST wie folgt: seit der Einführung der seit 1924 nur in italienischer Sprache gehaltenen Volksschulen hat sich folgendes entwickelt[vii]:

  • „Die italienische Staatschule entließ 1939 ca. 45% Analphabeten, d.h. die Schulentlassenen konnten das Gelesene nicht verstehen und waren nicht imstande, irgendeinen Gedanken schriftlich niederzulegen. Der Großteil der Schulentlassenen, besonders weit entlegener Berg- und hinterster Taldörfer, kannten weder alle Druckbuchstaben noch Schreibzeichen.“
  • „Auch jene, die in geringem Maße die italienische Sprache gelernt hatten, waren nur zu seltenem Falle befähigt, Gelerntes aufzufassen und wiederzugeben“
  • 95% der Schuljugend und der Schulentlassenen konnten ihre Sprache nur in der Mundart“. (siehe Bild 3, Textprobe)

Zu den einzuführenden Sprachkursen, die der Erlernung der Deutschen Sprache als Vorbereitung für den Besuch Deutscher Schulen nach der Auswanderung dienen sollten, enthalten die „Richtlinien“ folgende Bestimmungen[viii]:

      • „Die Sprachkurse betreffen nur Kinder von Volksdeutschen, die nach Deutschland abwandern werden
      • Es darf kein anderer Unterricht, als ausschließlich Sprachunterricht erteilt werden. Kundgebungen, Gesangsunterricht oder ein anderer Fachunterricht sind absolut unzulässig.
      • Der Besuch der staatlichen Schule (italienische Schule) wird empfohlen“.
            Die „Deutschen Sprachkurse“ begannen im ganzen Land mit dem 23. März 1940. Es ist nachzulesen, mit welchem Stolz und Genugtuung die Eltern nun ihre Kinder zum ersten Schultag in eine DEUTSCHE SCHULE begleiteten.



            Bild 3 Teil eines Briefes einer 16 jährigen, 11.12.1940 (aus 5, Dr. Sailer)
            Libe fraindin Rosa
            Ich will dir ain klainen Brif scraiben. Ich weis das du dainer Famiglie gescriben hast. Ich wais schon das zuerst mus man der famiglie scraiben dann kommen di anderen, ich dachte du hast nicht zait gehabt mir zu scraiben ........

            Die SS übernimmt die Leitung der ADERST in Bozen
            Inzwischen war ein Dr. Wilhelm Luig, SS-Obersturmbannführer aus dem Reich zum Leiter der ADERST berufen worden, der auch das Abkommen über die Deutschen Sprachkurse mit den ital. Behörden unterzeichnet hatte [ix]. Das Geschehen in der ADERST war schon zu diesem Zeitpunkt den Bozner Funktionären entglitten und das künftige Konzept Rufach war wohl ebenfalls festgelegt, als dies noch keiner ahnte.
            Unter dem Titel „Höhere Schulen für Volksdeutsche im Reich“ lesen wir bei Rainer Seeberich [x] :
            • Etwa 1000 Schüler meldeten sich zu Oberschulen, von denen [xi] nach Ausbildungslagern (Bild 1 u. 2) 470 Schüler auf die „Oberschulen für Volksdeutsche „ nach Rufach im Elsaß und 223 Schülerinnen auf die „Oberschule für Volksdeutsche“ nach Achern in Baden kamen.

            Bild 4 Ankunft 1.Transoprt in Rufach (Okt.40),
            Lehrer Albert Strobl vom ADERST in Bozen mit seinen Schülern wird von SS-Leuten abgeholt

            In Erwartung der baldigen Abwanderungen waren von Seiten der ital. Regierung also keine vollwertigen Schulen irgend einer Art in deutscher Sprache für die Optanten vorgesehen. An dieser Stelle hätten die Verantwortlichen der ADERST in Bozen auch merken müssen, dass es völlig unrealistisch war, in Südtirol von Italien Deutsche Oberschulen zu erwarten. Es war andrerseits ebenfalls unrealistisch, dass die Südtiroler weiterhin die ital. Schulen besuchen würden. Die baldige Übersiedlung mit allen Konsequenzen war vertraglich festgelegt und (wie bereits erwähnt) dienten die Deutschen Sprachkursen nur vorübergehend zu besseren Erlernung dieser Sprache im Volksschulbereich. Zu diesem Zeitpunkt empfahl die Regierung in Rom auch den Auswanderern einen weiteren Besuch der ital. Schulen. Es war also nicht so, dass diese „keine Schule“ besuchen durften, wie vielfach berichtet wird.

            Damit beginnt die Story der „Rufacher“.
            Diese Aktionen brachten eine sehr bunte Mischung an Schülern nach Rufach (Bild 4 u. 7). Eine besondere Attraktivität der Schule bestand übrigens auch darin, dass damit für die Eltern keinerlei Kosten, weder für Unterkunft oder Schule samt Lehrmitteln verbunden waren, ja man bekam auf Verlangen auch noch ausreichend Taschengeld.
            Auch in Rufach war die SS allgegenwärtig; wer erinnert sich nicht an den sich recht jovial gebenden Lehrer Brenner, der stets (und als einziger Lehrer) die schwarze Uniform der SS-Totenkopf-Division trug. Nie war er an kernigen und harten Sprüchen verlegen, und man hatte den Eindruck, dass er bei den Schülern gar nicht unbeliebt war, zumindest taten sie so.

            In Rufach bei der Hitlerjugend [xii]
            In Rufach waren die Altersklassen von etwa 1923 bis 1931 vertreten, ein relativ großer Altersunterschied, innerhalb dessen man die Dinge durchaus sehr

            Bild 5 „Willkommen“ am Anstaltseingang

            verschieden sehen und erleben kann. Nun sind Erziehungsanstalten für die männliche Jugend in aller Welt keine „Madchenpensionate“. Ein gewisser rauer Ton ist in pubertierenden Altersgruppen kaum vermeidbar, aber die schon erwähnten neuen Erziehungsmethoden führten unweigerlich zu unschönen Exzessen. Während der Zehn-jährige kaum dem Kindesalter entwachsen war, so war der 17jährige möglicher Weise schon Herr der Lage und in seiner Umgebung dominierend, wenn er sich entsprechend dem HJ - Gebaren verhalten durfte. Und dafür war Rufach aus seiner nationalsozialistischen Erziehungsauffassung wie geschaffen. „Gelobt sei, was hart macht“ war bekanntlich eine der Leitlinien der Hitler Jugend. Das gesamte Leben war von einem einem militärischen Drill im Sinne einer totalen Unterwerfung zugunsten eines












            Bild 6 Die Anstalt am Fuße der Vogesen

            allgegenwärtigen Gehorsamsprinzip von einem „Kampf“ und einem Gewaltpotential durchzogen, von der Macht des „Starken“ über den “Schwachen“. Dies geht auch aus den unten eingefügten Ausführungen des Anstaltsleiters Billing hervor, der in seinem letzten Absatz selbst den Aufbau der Schule als „Kampf“ bezeichnet. Nach heutiger Auslegung so etwas wie ein Psychoterror, in


            Bild 7 Zugf. Mangold[xiii] mit den ersten Ankömmlingen

            dem das Wohlergehen der Schüler kein Thema war. Die Schüler waren in ihrer Freizeit ohne besondere pädagogische Führung durch Erwachsene einander ausgeliefert, jeweils ältere Schülern der höheren Klassen übernahmen nach Art des Kasernendienstes die Rolle eines „Jungmannzugführers vom Dienst“ und dienten der Aufsicht. Negative Auswirkungen hatte dies alles besonders in den untersten Schulklassen im Altersbereich der Pubertät, wo durch dieses Erziehungssystem nicht selten dem Rowdytum Tür und Tor geöffnet war . Das von einem Teilnehmer der RAI-Runde beklagte Phänomen des Bettnässens und des Heimwehs in dieser Altersklasse war u.a. die Folge dieser brutalen Erziehungsmethoden [xiv].
            Zu beklagen wäre hier nachträglich, dass die anwesenden Südtiroler Lehrer diese Missstände weder erkannt, noch sich für deren Behebung eingesetzt haben. Mag sein, dass es auch gefährlich war, hier einzugreifen. In den höheren Klassen kamen solche Zustände nicht mehr vor.


            Der Bericht der „Neuen Tageszeitung“, etwas überspitzt als Folge RAI-Sendung, ist in weiten Teilen als Reaktion zur genannten Naivität als etwas überspitzt aufzufassen, wenn dort von der
            Bild 8, Wieder Mangold mit dem SS-Sturmbannführer aus Berlin. Von den Tirolern ist nichts mehr zu erkennen.

            Begeisterung der jungen Leute in Verbindung mit dem Deutschen Sprachraum gesprochen wird, ja die Jugend als „Heil-Hitler-schreiende Bagage

            Bild 9 „Aufmärsche“: Großaufgebot im Gleichschritt in Straßburg 1942

            bezeichnet wird. Nun, wer die Vorkriegszeit mitgemacht hat, kann sich daran erinnern, mit welchem Erfolg die Propaganda der Nationalsozialisten Alt und Jung des (beinahe) ganzen Deutschen Volkes millionenfach in eine rauschartige Aufbruchstimmung gebracht hat. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade die Jugend davon angesteckt wurde, die mangels irgend einer staatsbürgerlicher Erziehung oder persönlicher Erfahrung nicht den blassesten Schimmer davon haben konnte, wohin das alles führen würde. In Südtirol mit seiner faschistischen Gegenwart war das noch leichter als anderswo. Jugendliche werden auch „Minderjahrige“ genannt und sind in diesem Sinn kaum verantwortlich dafür zu machen, all das nachgeäfft zu haben, was ihnen die Erwachsenen vormachten. Schlimm wird das erst, wenn man das alles ein halbes Jahrhundert später, als mindestens 70jähriger offensichtlich immer noch nicht begriffen hat.

            Wie kam man nach Rufach?
            Warum gerade die Anstalt im Elsass ausgewählt wurde, ist dem Verfasser nicht bekannt. Ein besonderes Vorkommnis in den Verhandlungen der ADERST mit Berlin könnte jedoch einen Hinweis geben. Bekanntlich war auch davon die Rede, den Südtiroler Optanten im Deutschen Reich einen geschlossenen Siedlungsraum anzubieten. Die Option für Deutschland sollte damit schmackhaft gemacht werde. Unter anderem war dabei im Jahr 1940 eine Gegend im Burgund im Gespräch, die nicht allzu weit vom Elsass entfernt gewesen wäre[xv].
            Im Anschluss an eine Bewerbung von Seiten der Eltern in den Jahren 1940 und 1941 fanden in Südtirol Aufnahmeprüfungen statt, die sich (z.B. auf der Seiser Alm, siehe Bild 1 und Bild 2) neben schulischen Themen auch auf geistige Orientierung und auf die Neigung der Betroffenen zu Geländespielen, Durchsetzungsvermögen, eventuellem Kommandoton beim klaren Sprechen usw. bezogen. Dies alles zusammen brachte –gelinde gesagt- natürlich eine sehr bunte Mischung an Schülern nach Rufach. So gehen auch heute noch die Meinungen in der Bewertung dieser Zeit weit auseinander. Wie könnte es auch anders sein. Mancher von Ihnen hat nach seiner Meinung so „goldene Zeiten“ wie in Rufach nie wieder erlebt, denn z.B. mit 16 Jahren eine ganze Hundertschaft mit „Alles hört auf mein Kommando“ zu kommandieren, mag auch eine tolle Sache gewesen sein.


            Interessant ist auch die für sich sprechende Reihenfolge der Schulfächer, hier der Kopf eines Schulzeugnisses:
            Reihenfolge der Schulnoten:
            1. Körperliche Ausbildung
              Leichtathletik, Kampfspiele, Geräteturnen, Schwimmen, Geländesport
            2. Künstlerische Ausbildung
              Singen, Instrumentenmusik, Musiklehre, Werkunterricht, Bildnerisches Gestalten, Werkbetrachtung
            3. Wissenschaftliche Ausbildung
              Deutsch, Geschichte, Biologie, Erdkunde, Physik, Chemie, Mathematik, Italienisch (wurde nie gelehrt), Latein, Englisch
            Noch etwas: Meine Mutter besuchte uns im Frühjahr 1943. Sie ging u.a. zum Anstaltsleiter Billing, um ihm mitzuteilen, dass ihre Söhne im nächsten Schuljahr Rufach verlassen, und nach der Abwanderung im neuen Heimatort studieren würden. „Meine liebe Frau Aichner, ich muss Sie enttäuschen, Ihre Söhne gehören dem Führer und werden hier bleiben“, meinte der Anstaltsleiter, ganz im Sinn der herrschenden Ideologie und Lebensart.
            Ein Klassenlehrer aus dem Reich der Klasse meines älteren Bruders in der Napola baute sich im April 1944 vor seinen Schülern auf:: „Ich erwarte von Euch, dass sich die ganze Klasse zu Ehren des kommenden Geburtstages des Führers (am 20.April) freiwillig zur SS-meldet“....

            .. Rufach, aus der Feder des Anstaltsleiters Billing im Jahre 1943 [xvi]
            Ein gutes Bild zum Gesamtkonzept der Anstalt Rufach gibt auch der nachstehende Bericht zur Entwicklung der Anstalt 1940 bis 1943 des Anstaltsleiters Billing, drei Jahre nach deren Bestehen wieder. Man beachte in der verwendeten Sprache die Diktion nationalsozialistischer Wortwahl und die absolut militärische Ausdrucksweise:

            „DIE ENTWICKLUNG DER ANSTALTEN
            Am 26. Oktober 1940 brachte ein Sonderzug 450 Südtiroler Jungen aus ihrem Heimatland nach Rufach (Bild 3, 4, 5). Seit diesem Tage besteht die Schule für Volksdeutsche. Auf Grund der mangelhaften und verschiedenartigen Vorbildung der Südtiroler Schüler wurden eine zunächst siebenklassige Oberschule, eine dreiklassige Mittelschule und eine zwei‑, später vierklassige Volksschule eingerichtet. Durch Auslese besonders begabter Jungen unter diesen Südtirolem wurde der Grundstock zu einer NPEA gelegt. Eine in der ersten Septemberhälfte des Jahres 1941 durchgeführte Vormusterung und Aufnahmeprüfung brachte so viele Jungmannanwärter aus Baden und dem Elsaß hinzu, daß am 1. Oktober 1941 die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Rufach mit sechs Zügen[xvii] eröffnet werden konnte.,Beide Anstalten unterstehen einer einheitlichen Leitung und werden gemeinsam verwaltet.

            Am 24. und 25. Oktober 1941 trafen weitere 101 Südtiroler Jungen in der Anstalt ein und wurden nach ihrem Leistungsstand in die schon bestehenden Züge eingeordnet. Dadurch wurde die Neubildung eines 1. Oberschulzuges[xviii] und eines Hauptschulzuges notwendig. Die beiden Anstalten waren so zu einer Stärke von 600 Jungmannen


            Bild 10, Im Zeichenunterricht: „Erinnerung an die Abfahrt in Bozen“. Die kindliche Zeichnung steht im krassen Widerspruch zum forschen Auftreten in Uniform der Schüler


            angewachsen. Zur Vermeidung einer Überlastung siedelten vom 14. bis 16. Februar 1942 die drei Züge der Mittelschulabteilung mit ihren Erziehern nach
            Schweikelberg/Niederbayern um und bildeten dort die Stammjungmannschaft der neu errichteten Schule für Volksdeutsche Schweikelberg auf Grund von Prüfungen in der ersten Julihälfte 1942 wurden 34 Jungmannanwärter für den künftigen 1. NPEA.‑Zug und 21 Jungmannanwärter für die bestehenden NPEA.‑Züge 1‑5 in die Anstalt aufgenommen. Am 30. September 1942 trafen weitere 44 Südtiroler Jungen in der Schule für Volksdeutsche ein. Der Hauptschulzug siedelte am 2. Oktober 1942 nach Schweiklberg um. Somit verblieben in Rufach 7 Züge NPEA., 7 Züge Schule für Volksdeutsche Oberschule, 4 Züge „Schule für Volksdeutsche“.

            Am 23. Oktober 1942 wurden im Austausch 17 Jungmannen von Schweikelberg nach Rufach in die Volksschulabteilung umgeschult.
            Durch Aufnahmeprüfung vom 16.‑21. November 1942 wurden 57 Jungmannanwärter aus Baden und dem Elsaß in die Züge 1‑5 der NPEA. Rufach aufgenommen, durch ebensolche vom 10.‑15. Mai 1943 und 24.‑29. Mai 1943 in

            Bild 11 , ... die Zeichnungen bekommen schon klarere Konturen...

            die Züge 1‑4 insgesamt 12 Jungmannen, und für den künftigen 1. NPEA.‑Zug 48 Jungmannanwärter. So wird die NPEA. Rufach im Unterrichtsjahr 1943/44 mit sieben Zügen und etwa 220 jungmannen ihren Dienst beginnen.

            Im Juli 1942 rückten sämtliche Jungmannen des obersten Oberschulzuges als Freiwillige zur deutschen Wehrmacht bzw. zur Waffen‑SS ein und erhielten damit den Reifevermerk. Auch am Ende dieses Unterrichtsjahres verließen sämtliche Jungmannen des obersten (7.) Zuges sowohl der NPEA. als auch der Oberschule die Anstalt, um als Freiwillige in, den RAD. bzw. in die Wehrmacht oder Waffen‑SS einzutreten und ihre in der Anstalt erworbene Haltung und Gesinnung an der Front unter Beweis zu stellen. Jeder neue Zugang und Abgang von Jungmannen hatte eine Umbelegung in andere Anstaltsgebäude zur Folge. Die Anstaltsgebäude mussten zweckentsprechend um‑ und ausgebaut werden. Die Aufteilung der einzelnen Unterkunftsgebäude hat mit der Zeit eine einheitliche Lösung dadurch erfahren, dass der Schule für Volksdeutsche die südlich und der NPEA. die nordwestlich gelegenen Bauten zugesprochen wurden.

            Das Erzieherkorps war naturgemäß stetigem Wechsel unterworfen.
            Die Entwicklung der beiden Anstalten war seit deren Beginn durch Kampf [xix] gekennzeichnet. In klarer Zielstrebigkeit wollen wir mit Freude am begonnenen Werk weiter arbeiten“.

            Billing, Anstaltsleiter


            „die volkspolitische Aufgabe der Anstalt“, Zugführer Mangold

            Aus dem gleichen Anstaltsheft 1943 entnehmen wir noch nachstehenden, äusserst aufschlussreichen Beitrag zur Ideologie nationalsozialistischer Erziehung in Verbindung mit den „Umsiedlugsplänen“ des Führers Adolf Hitlers, mit denen man zu Kriegsbeginn alle so genannten Auslandsdeutschen „heim ins Reich“ lockte, um sie später in den neu eroberten Gebieten wieder anzusiedeln.
            Mangold war Kunsterzieher (Malen und Zeichnen, Bild 10, 11 ein Schulfach, das im Dritten Reich intensiv gepflegt wurde. Man sagt, weil A. Hitler sich stets als „verhinderter“ Künstler sah. Er war wiederholt Gast und Gastredner bei den weiter unten geschilderten „Rufacher Treffen“. Es ist nicht klar, ob der hier gezeigte Durchhaltewillen mehr der persönlichen Überzeugung entsprach, oder der drohenden Einberufung entgegenwirken sollte.

            Bild 12 Die „Umsiedlungspläne“ A. Hitlers[xx]

            Möglich war 1943 alles, als sich der Kriegsausgang schon weitgehend abzeichnete. Bereits ein knappes Jahr später sollte die Anstalt schon aufgelöst sein.
            Die Offenheit des Berichtes macht den Text zu einem sehr wertvollen Zeitdokument der Blut- und Bodenideologie des Dritten Reiches:

            DIE VOLKSTUMSPOLITISCHE AUFGABE DER ANSTALTEN [xxi]

            Bei der Gründung unserer Anstalt waren wir uns von Anfang an der großen volkstumspolitischen Aufgabe bewusst, die wir innerhalb und außerhalb unserer Anstaltsgemeinschaft zu erfüllen haben. Die volksdeutsche Herkunft vieler Jungmannen, das Erlebnis des Volkstumskampfes in ihren Heimatländern und die Lage unserer Anstalt im wiedergewonnenen deutschen Elsass bildeten die notwendigen Voraussetzungen zur Erziehung zum gesamtdeutschen Bewusstsein. Unabhängig von den verschiedenen Staatsangehörigkeiten, die unsere Jungmannen mitbrachten, hat das freiwillige Bekenntnis zum deutschen Volkstum sie mit ihren reichsdeutschen Kameraden zu einer echten Gemeinschaft zusammengeführt, und dieses Beispiel der Jungmannen hat auch so manchem elsässischen Volksgenossen die Augen geöffnet, dass es doch noch etwas gibt, das über allem andern steht: das Gesetz des gemeinsamen Blutes. Indem die Jungmannen aus Südtirol, aus Rumänien, Galizien, Ungarn und Serbien, aus Flandern, Holland, der Schweiz, aus Frankreich (Bild 12) und aus Übersee zusammen mit ihren elsässischen und reichsdeutschen Kameraden in einer Front, in einer Uniform sich um das Banner des Führers scharen (Bild 8, 9), folgen sie dem Beispiel ihrer Väter und Brüder, die an der Front die Idee des heiligen germanischen Reiches mit ihrem Blute besiegeln. Wenn auch in Anbetracht der verschiedenen schulischen Vorbildungen der jungen an die Erzieher erhöhte Anforderungen gestellt werden, so wird diese Mehrarbeit gerne geleistet, gewinnen wir doch damit unserem Volke wertvollstes deutsches Blut zurück, das sonst im Fremdvolk untergegangen wäre. Die Volksdeutschen leisten ihre Dankes schuld ab durch entsprechend hohen Lerneifer und stete Einsatzbereitschaft. Vielen dieser Jungmannen gelang es auf Grund ihrer überdurchschnittlichen Leistungen. Von der Schule für Volksdeutsche in die Nationalpolitische Erziehungsanstalt überzutreten. Reichsdeutsche und volksdeutsche Jungmannen der Nationalpolitischen Erziehungs anstalt und der Schule für Volksdeutsche erleben somit durch gegenseitigen Gedanken austausch die Größe unseres Lebensraumes und damit unseres Reiches. Das, was sie mit ihren Kräften schon heute zum Gelingen des großen Sieges beitragen können, geschieht neben ihrer Arbeit auf sportlichem, musischem und wissenschaftlichem Gebiet besonders durch den politischen Einsatz. Seien es weltanschauliche Feierstunden, Aufmärsche, Hj.‑Einsatz auf den Dörfern oder Landdienst im wiedergewonnenen deutschen Osten und Einsatz bei der Kinderlandverschickung in der Slowakei, überall bieten sich unseren Jungmannen Möglichkeiten volkstums- politischer Bewährung. Diese Einsätze, bei denen der Jungmann oft auf sich allein gestellt ist, vermitteln ihm am ehesten das politische Rüstzeug, das für ihn in Zukunft notwendig ist. Das Elsaß selbst mit seinen zahlreichen Denkmälern aus der deutschen Geschichte und die Lage der Anstalt auf den Grundmauern einer bedeutenden Niederlassung des Deutschen Ritterordens haben an der Erziehung zum gesamtdeutschen Bewusstsein unserer Jungmannen einen wesentlichen Anteil. Von den Höhen der Vogesen schauen sie hinab zur Burgundischen Pforte in ursprünglich germanisches Land, aus dem einst die deutsche Kaiserkrone kam. Bei klarer Sicht sehen sie die Schweizer Berge und erinnern sich der Worte Conrad Ferdinand Meyers: "Geduld, es kommt der Tag, da wird gespannt ein einig Zelt ob allem deutschen Land". Ausmärsche zum Hartmannsweilerkopf, der Besuch der Kriegsgräber aus dem ersten und zweiten Weltkriege und die Stunden an der Stelle des Rheinüberganges bei Breisach sind für den Jungmann unvergessliche Erlebnisse. Hier fühlt er wohl am stärksten den harten Schicksalsweg, den das Reich im Laufe der Geschichte gehen musste, bis es zu dieser Macht und‑ Größe der heutigen Zeit emporsteigen konnte. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass auch Erzieher und Gefolgschaftsmitglieder im politischen Einsatz stehen. So werden aus den Reihen des Erzieherkorps folgende wichtigen politischen Ämter bekleidet: der Schulungsleiter beim SS‑Abschnitt XXXXV in Straßburg, der Kreisschulungsleiter in Gebweiler, der Ortsgruppenleiter in Rufach und die örtlichen Führer der SA., SS und des Reichsluftschutzbundes. Der Betriebsobmann ist gleichzeitig auch Ortsobmann der DAF. Die Verbindung zur Hitler‑Jugend ist durch einen Erzieher, der Hj.‑Führer ist, gewährleistet. Die enge Verbundenheit mit der Stadt Rufach besteht durch die Besetzung der Stellen des 2. Beigeordneten und dreier Ratsherren im Stadtrat, wovon zwei Ratsherren Gefolgschaftsmitglieder der Anstalt sind. Die Leitung des örtlichen Geschichts‑ und Altertumsvereins für die Südvogesen hat ebenfalls ein Erzieher. So leistet die Anstalt in der politischen Aufbauarbeit des Elsass ihren besonderen Beitrag.
            Diejenigen Erzieher, Jungmannen und Gefolg-schaftsmitglieder, die an der Front stehen, können die Gewissheit haben, dass auch ihre Kameraden in der Heimat ihre Pflicht tun. Stets den Blick auf den Führer gerichtet, wollen wir seiner Worte eingedenk sein:

            "Die letzte Unsterblichkeit auf dieser Welt liegt in der Erhaltung des Volkstums."
            Heinrich Mangold

            So weit die Worte aus der Feder zweier maßgeblicher Exponenten. Man berücksichtige jedoch, dass solche Wortlaute (die schon Jahre früher zu hören waren), in der Zeit der Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Südtirol verständlicherweise nur zu gerne gehört wurden, bzw. Beachtung fanden.

            Das Elsaß unter dem Nationalsozialismus[xxii]
            Es blieb auch den Rufacher Schülern nicht verborgen, dass die Elsässer im Allgemeinen wenig begeistert waren, nunmehr zum Bild 13, Deutsche Verordnung im Elsaß Großdeutschen Reich zu gehören.


            Hauptsächlich wohl deshalb, weil sie nun nach dem Kriegsende mit Deutschland umgehend zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurden. Etwa 100.000 Mann, wovon ca. 25.000 nicht mehr zurückkehrten. Seit 1872 waren sie immerhin unter Frankreich und die Mittel- und Oberschicht war weitgehend französisch eingestellt. Es konnte auch nicht verborgen sein, dass die Deutschen mit den Elsässern unter diesem Aspekt ziemlich gleich wie Mussolini in Südtirol vorgingen:
            • der Gebrauch der französischen Sprache (auch im Familienkreis) war bei Strafe verboten (Bild 13),
            • Alle französisch klingenden Namen und Bezeichnungen (natürlich auch die Ortsnamen!) wurden wieder eingedeutscht,
            • Das Tragen der französischen (Basken) Mütze[xxiii] war bei Strafe von 150 Reichsmark verboten, usw., um nur einige zu nennen. In der Verwaltung wurden nur Beamte aus dem Reich eingestellt. Ebenso Lehrer und Professoren, die zudem noch in der Wehrmacht gedient haben mussten.
            In der Tat trugen in der Anstalt alle Lehrer (allgemein „Erzieher“ oder „Zugführer“ genannt, Wehrmachts- bzw. SS-Uniformen oder die goldgelbe SA-Uniform, deren Träger


            Bild 14 Tomi Ungerer karikiert 1941 seinen Deutschlehrer aus dem Reich

            im Reich spöttisch als „Goldfasane“ bezeichnet wurden.
            Tomi Ungerer war ein gleichaltriger Oberschüler in Kolmar, nur etwa 10km von der Anstalt entfernt. Auch ihm war die Anstalt Rufach bekannt, wie aus einer Textprobe des untengenannten Buches zu entnehmen ist:
            [...] Man versprach uns Geld als Belohnung für Denunziationen; wir sollten sogar melden, was unsere Eltern sagten. Ich kenne keinen einzigen Fall, wo das passiert wäre. Und was der Gipfel war: Man sagte uns, falls unsere Eltern verhaftet würden, hätten wir Aussichten, nach Rufach ins Naziinternat zu kommen, in die NaPoLa (Nationalpolitische Erziehungsanstalt), die in einer ehemaligen Irrenanstalt untergebracht war. [...]
            Tomi Ungerer aus Colmar ist heute ein Zeichner und Maler von Weltruf[xxiv] und zeichnete als 12 Jähriger zur selben Zeit, wie seine Altersgenossen in Rufach. Man muss allerdings zu- geben, dass er dabei in der Wahl seiner Motive die größeren Freiheiten hatte, als wir. Zum Unterschied von uns, konnte er Zeichnen, was er wirklich dachte, wenn er auf Bild 14 seinen, aus dem Reich zugezogenen und Lederhosen tragenden Lehrer in Lederhosen karikierte.

            Das Ende der Anstalt Rufach,
            erstmals wieder staatliche deutsche Oberschulen in Südtirol

            Die Anstalt Rufach wurde 1944 im Zuge der Ereignisse vom 8. September 1943 [xxv]und infolge des Einmarsches der amerikanischen Truppen im Elsass 1944 geräumt und aufgelöst. Die Schüler kamen nach Hall in Tirol, nach St.Ulrich in Gröden und in das teilweise leer stehende Vinzentinum in Brixen. Militärfähige Schüler wurden als „Freiwillige“ eingezogen und so der gesamte Spuk „Rufach“ bald vorbei. Die Oberschulen hatten in der Nachkriegszeit ihre Fortsetzung mit einem kleinen Rest von kaum 80-100 Schülern im wesentlichen im 1945 neu errichteten wissenschaftlichen Lyzeum in Brixen. Rufach dauerte nicht ganz vier Jahre. Insgesamt nur eine kurze Zeit, in der die Insassen allerdings viel erlebt hatten, und in der Erinnerung nimmt diese Zeit heute bei vielen einen wesentlich längeren Zeitraum in der Erinnerung der Betroffenen ein.
            Südtirol sollte eine Autonomie erhalten und die neue Landesregierung in Südtirol bemühte sich intensivst um die Errichtung staatlicher Schulen in deutscher Sprache, wohl auch, um u.a. die „herrenlos“ gebliebenen Rufacher bzw. deren Nachfolger in Gröden und Brixen wieder zu integrieren. Als erste Schule dieser Art wurde das Wissenschaftliche Lyzeum in Brixen ins Leben gerufen (heute die „Realschule Ph. Fallmereyer“ genannt), das im vorliegenden Kontext, außer den bestehenden, meist kirchlich geführten Anstalten, Vinzentinum in Brixen, das Franziskanergymnasium in Bozen und das Johanneum in Dorf Tirol als „Auffanglager“ der Rufacher Oberschule anzusehen ist. Hauptsächlich in Brixen trafen sich 1945 (teilweise als Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft) zur Abschlussklasse alle jene, die in Rufach oder im sonstigen, ehemaligen Deutschen Reich keinen Abschluss machen konnten, mit Unterkunft im dazu eingerichteten Kassianeum. Auch der Lehrkörper rekrutierte sich im wesentlichen aus Südtiroler Professoren, die in Rufach schon tätig waren. Einer Maturaklasse in deutscher Sprache für 1946 stand also nichts im Wege.
            Das neue, gemischte Schulmodell sollte sich in den kommenden Jahrzehnten bestens bewähren. Für diejenigen, die sich in Rufach nicht wohlgefühlt haben, eine sehr erfreuliche Entwicklung, denn die dort pubertierenden Plagegeister waren wie vom Erdboden verschwunden und es gab wieder festen Boden unter den Füßen für die dort Verunsicherten. Viel zu neuen positiven Lebenserfahrungen hat auch Dr. Josef Gargitter und seine Mitarbeiter im Schülerheim Kassianeum beigetragen, der erste dortige Regens und spätere Bischof von Brixen, wenn er und seine Mitarbeiter größtes Verständnis für uns Jugendliche zeigten und von allen Schülern daher sehr geschätzt waren.
            Heute gibt es ein breit gefächerts Angebot an staatlichen Schultypen in deutscher Unterrichtssprache in allen größeren Orten in Südtirol und die vormaligen, kirchlich geleiteten Hochburgen Vinzentinum, Joanneum, Franziskaner spielen nicht mehr jene tragende Rolle bzw. sind ganz geschlossen. Diesen, stets mit deutschsprachigem Unterricht geführten, kirchlichen Lehranstalten gebührt der Verdienst dafür, dass sie (auch mit dem Religionsunterricht in den Volksschulen) in den Zeiten des Faschismus die einzigen Schulen waren, in denen die Deutsche Sprache weiter gelehrt wurde. Auch der reichliche Priesternachwuchs der unmittelbaren Nachkriegszeit findet darin seine Erklärung. Wegen fehlender Oberschulen währen der Faschistenzeit hatte die studierwillige Jugend mit ihren mangelnden Italienischkenntnissen in Südtirol außer in den kirchlich geführten Anstalten wenige andere Möglichkeiten, einen anderen akademischen Beruf zu wählen. So ist der schwindende Zuspruch in Priesterseminaren weniger dramatisch zu erklären, als es vielfach geschieht.

            sog. „Rufacher“-Treffen
            In mehrjährigen Abständen finden Treffen ehemaliger Rufacher statt. Der übergroße Teil will bei diesen Treffen jedoch ehemalige „Schicksalsgenossen“ wiedersehen und sonst gar nichts, denn die Rufacher Zeit hat aus Ihnen zweifellos eine Schicksalgemeinschaft und eine noch heute über alle sozialen Barrieren wirkende Solidarität der Betroffenen hervorgebracht. Dies ist erstaunlich und soll nicht unbedingt in einen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht werden, sondern als einschneidende Lebenserfahrung für alle. In der RAI-Sendung wurde da nicht differenziert.
            Festzustellen ist aber auch, dass trotz allem viele namhafte Persönlichkeiten der Nachkriegszeit im privaten Dienst und in der öffentlichen Verwaltung aus der „Rufacher“ Generation hervorgegangen sind. Die kurzzeitige „Flucht aus der lokalen Enge“ hat so auch ihre gute Wirkung gehabt. Sie hatten Glück, dass es bei dieser „kurzen Zeit“ blieb. Nicht wenige haben jedoch ihr Leben im Krieg verloren, denn die „vormilitärische Erziehung“ machte sie für diesen Dienst mehr als attraktiv.

            Vor allen Dingen waren die Rufacher und andere Schüler, die im Deutschen Reich während des Krieges Oberschulen besuchten, ab 1945 eine wichtige Voraussetzung zur Einrichtung einer deutschsprachigen Verwaltung und von Staatlichen Oberschulen in Deutscher Sprache in Südtirol.


            Dr.-Ing. Peter Aichner

            Brixen, im März 2002


            [i] Rufach (heute franz. Rouffach) ist ein kleines Städtchen im Oberelsaß, etwa 10 km südlich von Colmar am Fuße der Vogesen. Eine seinerzeitige „Irrenanstalt (sic) wurde von den Fransosen vor dem Einmarsch der Deutschen Truppen geräumt und nach Süd-West Frankreich verlegt und entsprechend einem allgemeinen Gesuch der ADERST in Bozen von der Regierung in Berlin geräumt und der Südtiroler Studierjugend der Optanten für Deutschland zugewiesen.
            [ii] Bestehend aus einer Volksschule, einer Mittelschule (etwa Hauptschule) und einer Oberschule
            [iii] nur eine Oberschule nach weiterer „Auslese“ der Ankömmlinge.
            [iv] Wolfgang Obwexer, „Die Südtiroler Optantenschule in Rufach“, Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Inssbruck, Jänner 1987, 350 Seiten, persönlich vom Verfasser überreicht.
            [v] Dies geschah im Augenblick der Option für Deutschland
            [vi] siehe ebenso in 4 Wolfgang Obwexer
            [vii] Siehe in: Dr. Oswald Sailer Athesia 1985 „Schule im Krieg“, Deutscher Unterricht in Südtirol 1940-1945, S.10
            [viii] ebenda Seite 22
            [ix] Es sei vorausgeschickt, dass in jeder Oberschule des Deutschen Reiches ein Abgesandter des Reichsführers der SS Heinrich Himmlers saß, der die eindeutige Ausrichtung der Ausbildung zu überwachen hatte. Reichsführer SS H.Himmler hatte die Schulen fest im Griff.
            [x] Rainer Seeberich „Südtiroler Schulgeschichte“, Muttersprachlicher Unterricht unter fremdem Gesetz, Seite 107
            [xi] ebenda Seite 109 (diese Angaben und Zahlen bedürfen wohl einer näheren Überprüfung, da in Rufach bekanntlich auch eine Volks- und Mittelschule untergebracht waren, auch gibt es unterschiedliche Angaben)
            [xii] Zum Leben in den Anstalten Rufach und Achern gab die Anstaltsleitung in den Jahren 1941, 1942 und 1943 insgesamt vier Schriften heraus, mit Aufsätzen der Schüler, mit Zeittafeln und vor allem mit Bildern heraus, aus denen die vorliegenden Bilder entnommen sind.
            [xiii] Gauleiter Wagner wird 1946 von den Franzosen in der Nähe von Straßburg hingerichtet.
            [xiv] Schüler der oberen Klassen drangen vermummt in die Schlafsäle der wehrlosen Zehn- bis Elfjährigen ein, um sie grundlos zu verprügeln. „Besuch des heiligen Geistes“, (wie sich diese Gepflogenheit nannte). Vergehen gegen den „Kameradschaftsgeist“, wie Diebstahl wurde in solcher Weise in Form einer Lynchjustiz geahndet. Betroffene wurden grün und blau verprügelt. In den gemeinsamen Duschräumen konnte man sich davon überzeugen.
            [xv] Leopold Steurer, FÖHN, Südtirol 1939-1945, Option, Umsiedlung, Widerstand, „Abwanderung und Siedlungsgebiete“, Seite 164 ff.
            Übrigens hat dieses Versprechen auch Bischof Geisler in Brixen zur Option für Deutschland bewogen. Ihm hatte man sogar eine geschlossese Diözese zugesagt.
            [xvi] Aus „Nationalpolitische Erziehungsanstalt, Schule für Volksdeutsche“, Heft 3, 1943.
            [xvii] In Anlehnung an die militärische Ausrichtung der Schule wurde an Stelle des Wortes „Klasse“ die Bezeichnung „Zug“ gewählt, als kleinste Einheit einer Hundertschaft = alle Klassen eines Schultyps.
            [xviii] In diese 1.Oberschulklasse wurde ich aufgenommen
            [xix] Hervorgehoben und unterstrichen vom Verfasser
            [xx] Aus „Föhn“
            [xxi] Heinrich Mangold, in Heft 3 der Rufacher Schriften 1943
            [xxii] Tomi Ungerer, „Die Gedanken sind frei“, Meine Kindheit im Elsaß, Diogenes Verlag, Zürich
            [xxiii] Die (Südtiroler)Hitlerjugend aus der Anstalt Rufach machte sich einen Spaß daraus, einem Elsässer diese Mütze vom Kopf zu hauen, wenn sie ihn damit antraf. Der Verfasser kann sich selbst an einen solchen Vorfall bei einem Ausmarsch in Uniform erinnern.
            [xxiv] Ebenso in 15
            [xxv] Mussolini wird gestürzt und die Deutschen Truppen besetzen Italien. Die „Operationszone Alpenvorland“ des Deutschen Reiches wird gegründet, bestehend aus den Provinzen Bozen, Trient und Belluno mit dem Gauleiter Hofer in Innsbruck an der Spitze.

            Samstag, 25. Oktober 2008

            Dr. Simon Aichner, Arzt in Sibirien 1915-1920


            Vorwort
            Die Erkenntnis ist nicht neu, dass langjähriger ehemalige Kriegsgefangene, die seinerzeit aus Gefangenschaft in Sibirien heimkehrten, kaum oder nur sehr wenig über ihre Erlebnisse erzählten. Meist nur ein Mal, wenn sie zu Hause angekommen waren, aber dann kaum mehr wieder. Das war im Ersten und im Zweiten Weltkrieg so. Ich denke, dass der Grund dafür in der eigenen Erkenntnis der Erzähler lag, dass ihre Worte kaum das Erlebte wiederzugeben vermochten, oder dass sie fühlten, ihre Zuhörer mangels Einfühlungsvermögen streckenweise sogar zu langweilen.
            Das war auch bei uns zu Hause so. Mein Vater, Dr. Simon Aichner war allerdings schon mehr als zehn Jahre vor meiner Geburt in sibirischer Gefangenschaft gewesen, so dass schon aus diesem Grund zu meiner Zeit kaum mehr viel davon geredet wurde. Auch die nachstehend wiedergegebene „Lebensbeschreibung" kam mir erst vor wenigen Jahren in die Hände, als diese in meinem Heimathaus im Pustertal durch Zufall gefunden wurde.
            Nur in groben Zügen waren in unserer Familie die Erlebnisse meines Vaters in Sibirien bekannt. Es ist auch anzunehmen, dass er den ganzen Text seiner „Lebensbeschreibung" mit einer Unzahl von Daten und Namen zum einen aus den mitbekommenen Zeugnissen über seine medizinische Tätigkeit und zum anderen ca. 20 Jahre nach der Heimkehr aus der reinen Erinnerung niedergeschrieben hat, denn persönliche Aufzeichnungen aus der Gefangenschaft selbst waren unbekannt. Sein unwahrscheinliches Gedächtnis war uns Kindern allerdings nichts Neues. Insgesamt war Dr. Aichner er in folgenden Lagern ärztlich tätig (siehe auch Bestätigungen Nr. 1 bis 3):
            - (Werchne Udinsk) 1915-1917
            - in Troitzkossarsk, 1917-1918
            - in Irkutzk, 1918-1920
            Der nachfolgende Text aus dem Jahr 1942 ist sehr wahrscheinlich nur ein unvollständiger Entwurf einer nachgefolgten, (nicht mehr vorhandenen) Endfassung. So fehlt nämlich jeglicher Hinweis zur in den letzten 20 Jahren vor der Niederschrift herangewachsenen Großfamilie mit neun Kindern und zu seiner ausgedehnte Arztpraxis in Niederrasen, die im Olanger Talkessen und im Antholzertal sich über 20 km mit mehreren tausend Einwohnern erstreckte. Dies hat aber mit der Thematik des „Arztes in Sibirien" nichts zu tun und ist daher hier nur von zweitrangiger Bedeutung. Der vorhandene Text wird hier in Kursivschrift wiedergegeben. Bemerkungen und Ergänzungen als Fußnoten durch den Bearbeiter siehe am Ende der „Lebensbeschreibung" in Normalschrift


            Lebensbeschreibung Dr. med. Simon Aichner
            „Ich, Dr. Simon Aichner, Arzt, dzt. In Innsbruck, Schöpfstraße 4, früher Gemeinde-arzt in Niederrasen, Bruneck, ausgewandert am 25. April 1942.
            Ich bin geboren am 16. Februar 1887 in Terenten (Bezirk Bruneck), als Sohn des Josef Aichner, Schmiedmeister (sog. Schmied im Bach) und der Agnes Rofner, geb. in St. Sigmund. Ich besuchte das Gymnasium Vinzentinum in Brixen von 1899 bis 1907, wo ich am 10. Juli das Reifezeugnis erhielt.



            (1)Heimathaus in Terenten, 1910

            Medizinstudium in Innsbruck
            Am 15. Jänner 1908 wurde ich an der medizinischen Fakultät der Universität Innsbruck inskribiert, nachdem ich vorher einige Wochen philosophische Vorlesungen besucht hatte. Nachdem ich alle Prüfungen zu den vorgeschriebenen Terminen abgelegt hatte, wurde ich am 19.Mai 1913 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert. Während der Studienzeit habe ich vom 1. April 1910 bis 1. Oktober 1910 als einjahrig-Freiwilliger Mediziner das erste Halbjahr beim 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger in Mezzolombardo und in Bozen abgedient.



            (2) Dr. Simon Aichner, ca, 1955

            Gemeindearzt in Niederrasen im Pustertal
            Wenige Tage nach der Promotion habe ich als Gemeindearzt den Sanitätsdienst Sprengel in den damals so eingeteilten Gemeinden Ober- und Niederrasen, Olang, Antholz und Geiselsberg übernommen, nachdem die Anstellung schon einen Monat früher erfolgt war.

            Der erste Weltkrieg bricht aus
            Am 1. August 1914 bin ich als Arzt bei der Allgemeinen Mobilmachung zum 3. Regiment nach Brixen (Kader) eingerückt, ohne Offizierscharge, nachdem ich das 2. Halbjahr noch nicht abgedient hatte; vor dem Auszug ins Feld wurde ich vom Regiment zum titl. Zugsführer befördert. Die Beförderung zum Assistenzarztstellvertreter erfolgte erst 1914 mit Rückwirkung ab 1. August 1914, da alle diesbezüglichen Dokumente beim Regiment verloren gegangen waren. In Galizien wurde ich zur Divisionssanitätsanstalt Nr. III und von dieser zum Feldspital 1/XXIV (um den 20. August) abkommandiert. Bei diesem habe ich als Arzt Dienst gemacht und bei den Gefechten von Ende August bis 7. September (in der Nähe von Brlz, Gegend von Sokal, Niski, Uhnov). Nachdem Lemberg über-raschend von den Russen genommen wurde, hätten wir mit dem Spital über Uhnov nach Nava Russka zurückgehen müssen. Als wir am Morgen des 7. September von Uhnov auf-brechen sollten, begann unerwartet außerhalb dieser Stadt, in der Richtung die wir ein-schlagen wollten, ein Gefecht, das sofort mit dem Rückzug der Unseren in die Stadt endete, nachdem auf unserer Seite nur Trainee und Bewachungsmannschaft zur Verfügung stand und die eigentliche Truppe schon nach Nava Russka abmarschiert gewesen war.

            Nach drei Wochen Krieg bereits in russischer Gefangenschaft
            Die Russen waren unerwartet von Lemberg (Südwesten) heraufgekommen. Von unserem Kommandanten, Rgt. Arzt Dr. Wurdak wurde das Spital den Russen übergeben, der Kommandant hatte den Befehl von Nisi (wo die Verwundeten einem Reservespital übergeben wurden) nach Uhnow zurückzukehren, am Ende der Marschkolonnen und von dort weitere Befehle abzuwarten. Dieser Befehl wurde allzu pünktlich ausgeführt; wenn wir zu Beginn des Gefechts, als die Ämter aus der Stadt flohen (Steueramt etc.) in die Richtung Nordwesten, mit Zurücklassung der Wagen, sofort Reißaus genommen hätten, wäre das Personal wahrscheinlich noch durch-gekommen.
            Man muss aber bedenken, dass damals allgemein die Meinung herrschend war, dass das Sanitätspersonal (gemäß Genfer Konvention) ohnehin ausgetauscht würde, und dass die Gefangenschaft nicht besonders tragisch genommen wurde, erst als wir in Kiew (auf der Zitadelle) mehrere Tage uns aufhielten und einvernommen wurden, wurde uns erklärt, dass es da keinen Unterschied gäbe, und dass die Genfer Konvention nicht angewendet würde. 1...


            Die lange Fahrt nach Krasnojarsk in Sibirien
            Wir fuhren am 18. September von Kiew ab und fuhren über Kursk, Woronesch, Pensa, Samara (Kuiischew), Ufa, Itelianowsk, Omsk nach Krasnojarsk, wo wir am 4. Oktober ankamen und in die dortige Garnison (ein ausgedehntes Barackenlager) untergebracht wurden.
            Es stellte sich heraus, dass die Unterkünfte für die vielen Gefangenen nicht ausreichten und es wurde angeordnet, dass zwei Transporte (zu ungefähr je 1000 Mann) weiter nach Osten abtransportiert werden sollten. Nachdem von den dort anwesenden Ärzten keiner freiwillig sich als Begleitpersonal meldete, wurde ich mit anderen (als Jüngsten) dazu dienstlich vom ranghöchsten Offizier bestimmt.


            Weiterfahrt nach Werchne-Udinsk
            Nach fünf Tagen Fahrt kamen wir am 20. Oktober in Bereskowa bei Werchne-Udinsk, nicht weit vom östlichen Ufer des Baikalsees an, wo die Mannschaft unter weit besseren und günstigeren Verhältnissen in den dortigen Holzbaracken untergebracht wurde.
            Wir haben dort einen Ambulanzdienst im Lager eingerichtet; ein Spital fehlte vorerst noch, aber die Russen haben uns halbwegs das gegeben, was sie selbst hatten, bis höhere Kom-mandanten intervenierten, hatte es lange genug gedauert. Das Spital wurde im Laufe des Februar 1916 etabliert und bis dahin mussten die Kranken in das Rote-Kreuz-Spital in die Stadt ca. 10 km transportiert werden, bei minus 30-40 Grad auf einem Schlitten.
            Von da an hat der Dienst halbwegs funktioniert; Rgt. Arzt Dr. Zeidner (Ungar) leitete diesen. Ich selbst hatte in einem Bezirk (die Russen nannten ihn das VI Bataillon) mit ca. 1400 Mann, vorwiegend Reichsdeutschen, den Ambulanzdienst zu besorgen; es gab besonders im Verlaufe des Winters 1914/1915 sehr viele Kranke an Bauch- und Flecktyphus und gegen das Frühjahr massenhaft Skorbut. Dieser Zustand dauerte bis 1916; da wurde in der zweiten Garnison von Werchne-Udinsk, dem sog. Eisenbahnpark, ein zweites Gefangenenlager mit 20.000 Mann ein-gerichtet, mit einem Spital, und ich wurde dorthin abkommandiert zum Spitaldienst. Die Mannschaft wurde in ungeheuren Baracken (ehemaligen Magazinen für Feldbahnen 1000 Mann je einer untergebracht. Das Spital wurde halbwegs erträglich eingerichtet, mit annehmbaren Betten, Einrichtungen etc., was auch von Deutschen- und Österreichischen Roten-Kreuz-Missionen anerkannt wurde.
            Im Verlauf des Jahres 1916 wurde fast die ganze Mannschaft, mit Ausnahme von Offizieren, Unteroffizieren, Aspiranten, Feldwebel, Invalide, Kranke auf Arbeit abkom-mandiert, so dass bis zum Sommer oder Herbst 1916 nur mehr 800 bis 1000 Mann im Lager blieben, mit einem verhältnismäßig hohen Spitalsbelag; die Abteilungen im Spital schrumpften daher ziemlich zusammen und es waren Ärzte überflüssig. (Siehe Bestätigung Nr.2)


            Im Lager Troizkosarsk
            Als dann im Sommer 1917 das Lager Troizkosarsk bezogen wurde, wurde ich dorthin als Spitalsarzt abkommandiert, ca. 250km von Werchne-Udinsk, unmittelbar an der mongolischen Grenze (Kiachta); 800 Österreichische und 30 Reichsdeutsche Offiziere gingen dorthin ebenfalls ab. Das Spital war für 20–30 Mann eingerichtet.


            (3) Elsa Brandström


            (4) Gräfin Nora Kinsky


            (5) Patienten in einem sibir. Lazarett. Der vierte von links Prof. Burghard Breitner

            Eine Rote-Kreuz-Mission (Elsa Brandström und Frau Hauenstecken) versahen das Spital mit genügend Medikamenten und sonstigen Behelfen; Instrumente wurden von den Russen reichlich beigestellt. Die Zustände im Lager waren verhält-nismäßig günstig; nur die Verpflegung wurde wegen der inzwischen einge-tretenen Teuerung schwierig. Es wur-den mir von Frau Hauenstecken ca. 2.000 Rubel aus Tientsin überwiesen, die ich an das Offizierslager abgab, da die Mannschaft (ca. 250 Mann) regelmäßig Lohn empfing und wir wie die russische Mann-schaft verpflegt wur-den. 1 ...
            Das Lager Troizko-sarsk wurde Ende März 1918 plötzlich abgebrochen, weil man befürchtete, dass wegen der nahen Grenze (zur heutigen Mongolei) eine Invasion der Japaner kommen könnte (Friedensschluss von Brest Litowsk, Möglichkeit einer Bewaffnung der Gefangenen durch die Sowjets gegen die Entente) Es kehrte das gesamte Lager nach Berskowa zurück, wo ich dann eine Abteilung im Spital übernahm.. 2 ...
            Im Lager Bereskowa
            Nun kam folgender Zwischenfall: im Spital von Bereskowa warteten ca. 25 Invaliden auf den Abtransport nach Deutschland; der Delegierte des Schwedischen Roten Kreuzes, Herr Andersen, der mir persönlich geneigt war, beanspruchte mich zur Begleitung dieser Inva-liden nach Moskau; ich fuhr mit diesen Kran-ken am 28.5.1919 von Bereskowa ab; Als wir am 29. d.M. in Irkutsk ankamen, hieß es, die Strecke sei nicht mehr frei, in Kausk hätten die Tschechen gemeutert und die Strecke besetzt. Die Fahrt musste unterbrochen werden, und die Kranken kamen ins Gefangenenspital; da aber im Lager genügend Ärzte vorhanden waren, war ich überflüssig und auch ohne Beschäftigung – bis November 1918.
            Im Krankenhaus Irkutsk
            Inzwischen hatten die Tschechen[1] in Irkutsk eine große Garnison bezogen und auch ein Spital eingerichtet, für das ihnen die Ärzte fehlten, da ihre Ärzte hohe Chargen bekleideten und nur Kanzlei(Bro)dienst verrichteten.



            (6) Leo Trotzky, erster Führer der Roten (Bolschewiki)


            (7) Dr.S. Aichner (Pfeil, Mitte) mit Kollegen in einem sibirischen. Lager. Ort unbekannt

            Es kam daher eine Anfrage an das russische Lagerkommando, ob sich Kriegsgefangenen-Ärzte, die ohne Beschäftig-ung waren, für das tschechische Spital zur Verfügung stellten, freiwillig; wenn nicht, erfolgte die Kommandierung. Da ich in erster Linie in Betracht kam, da schon ein anderer Arzt (Dr. Schneider aus Graz) im tschechischen Spital Beschäftigt war. Da ferner vom ranghöchsten Arzt nichts eingewendet war, und die Sache außerdem vom Deutschen Roten Kreuz im Interesse eines günstigen Einvernehmens gerne gesehen wurde, habe ich mich zur Verfügung gestellt und bin am 18. November ins russische Spital, wo die tschechische Abteilung unabhängig untergebracht war, abgegangen. Ich musste nur die Zusicherung abgeben, die Arbeitsmannschaft im Spital, 250 Kriegsgefangene und die Arbeitsmannschaft in der Stadt, auch einige hundert Mann, ärztlich zu betreuen, was in der Folge auch geschehen ist. Ich kann versichern, dass es in der Folgezeit im Bereich der Stadt Irkutsk in keiner Weise zu irgendwelchen Ausschreitungen gegen Gefangene gekommen ist, wie etwa im Fernen Osten (Wladiwostok); es besteht kein Zweifel, dass wir da eine Art ausgleichendes Moment [im Spannungsfeld Russen-Tschechen. Anm. d. Verfassers] gebildet haben 3 ..4 ...
            Außerdem hatte uns die ganze Art und Weise, wie die Tschechen mit Koltschak umgingen und zu den Roten umschwenkten, sehr angewidert, so dass wir beschlossen, uns von ihnen zu trennen, wenn wir auch nicht wussten, was nun unter den Roten geschehen würde. Diese haben aber im Großen und Ganzen die Großmütigen gespielt (Wie es auch Frau Alja Rachmenowa in ihren Büchern berichtet5 ... Die Roten haben niemandem ein Haar ge-krümmt, so-weit man nicht an früheren politischen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen war. Uns haben sie Spital im früheren Dienst belassen und haben uns noch zu allem Überfluss als mobilisiert erklärt, wie auch die übrigen Gefangenen, sodass wir später, als die Möglichkeit einer Heimfahrt gekommen war, vor eine eigene Kommission treen und uns als dienstuntauglich aus irgend- einem Grund erklären mussten, um frei zu werden. Dies ist auch ohne Schwierigkeit geschehen, da die dabei funktionierenden Ärzte alle unsere guten Bekannten waren.
            Ich bin in solchem Dienst gestanden vom Jänner 1920 bis September 1920; wir mussten da mithelfen, die furchtbaren Folgen des Bürgerkrieges zu liquidieren; Bauch- und Flecktyphuskranke hat es in einer Menge gegeben, wie in den Gefangenenlagern kaum zu den schlimmsten Zeiten; wenn die Kranken, die in der Weißen Armee gedient hatten, nicht starben, wurden sie aus den Spitälern heraus zu den Gerichtsverhandlungen geholt. (Siehe Bestätigung Nr.3)



            (9) Dr. Montandon


            (8) Heimkehr 1921 im Frachter „Frankfurt"

            1920, Heimfahrt nach Österreich und Ankunft in Innsbruck (Mission Dr. Montandon) 6...
            Im September 1920 hieß es plötzlich, das Amerikanische Rote Kreuz hätte im Osten Schiffe gechartert für den Abtransport der Gefangenen in ihre Heimat; und tatsächlich kam es auch so; nach dem wir auch alle von einer ärztlichen Kommission als dienst-untauglich erklärt worden waren, fuhr unser Transport mit fast 800 Mann an Bord am 20. September 1920 von Irkutsk ab und wir kamen am 8. Oktober in Nikolsk-Ussurysk (bei Wladiwostok) nach vielen Kontrollen und Verzögerungen an. Zunächst wusste man nichts über die Weiterfahrt, aber bald wurde bekannt, dass die „Frankfurt", ein ehemals deutsches Frachtschiff, das seinerzeit Militärtransporte zwischen Kiel und Kiantschao besorgte, uns an Bord nehmen werde, mit englischer Besatzung. Und so geschah es auch. Wir gingen an Bord am 20. November 1920 und wir landeten in Triest am 2. Jänner 1921. Ich fungierte nebst einem ungarischen Mediziner als Schiffsarzt, wofür ich vom österreichischen Roten Kreuz mit 100 Yen honoriert wurde. 500 Österreicher, 800 Ungarn und 150 Galizier fuhren mit einigen Passagieren: Die Engländer sind mit der Mannschaft anständig umgegangen, die Verpflegung war gut, wenn auch nicht nach dem Geschmack der Leute; besonders die Ein-teilung der Mahlzeiten hat ihnen nicht gefallen. An Bord war immer alles wohl auf, nur in Nagasaki ist ein Engländer an Alkoholvergiftung gestorben. In den englischen Häfen hat kein Gefangener britischen Boden betreten dürfen, dafür sind die Japaner in Nagasaki sehr höflich gewesen und haben uns alles Mögliche gezeigt. Die stolzen Engländer hätten es sich gewiss nicht träumen lassen, dass sie einstens in Singapore selber Gefangene sein würden, wo sie seinerzeit so verächtlich herunter sahen.
            Ankunft in Innsbruck am 5. Jänner 1921, abends 6 Uhr. Bei der Abfertigung in der Traine Kaserne [=Ausbildungskaserne, Anm. d.Verf.]. Bei der Ankunft in der Traine Kaserne hat der österreichische Feldwebel, als er mir den Fahrschein bis zum Brenner 2. Klasse aushändigte, erklärt, „das ist alles, was Sie vom Österreichischen Staat noch zu verlangen haben" .... Keine Gebühren, keine Beförderung, nicht einmal ein schäbiges Dankeschön! Und doch muß ich heute [zwanzig Jahre später] noch erklären, dass ich in dieser ganzen Zeit von 6 Jahren vielen Menschen, nicht nur österreichischen und deutschen Kameraden, sondern allen, ohne Unterschied der Nationalität, Freund und Feind (im Sinne des weltweiten Roten Kreuzes), sehr viel Gutes getan habe. Bei allen in Diensten, bei niemandem bezahlt.7
            1921, wieder Gemeindearzt in Niederrasen im Pustertal, Bemerkungen zum Leben unter den Faschisten; indirekte Begründung zur Option 1940.

            Das Leben unter den Faschisten beginnt
            Ich bin im März 1921 nach Niederrasen zurückgekehrt und habe sozusagen am anderen Tage zu arbeiten angefangen, als ob nichts geschehen wäre!
            Damit hat das „wallische" Spiel angefangen, nach außen hin höflich und freundlich, innerlich aber in Verachtung und mit dem Gefühl der Beleidigung und permanenten Kränkung und Zurück-setzung, weil das Doppelspiel Selbst-verständlichkeit und die Unterdrückung des gerechten Ärgers und Zornes zur unbedingten Bürgerpflicht geworden sind. Ich habe um die voreilige Abwanderung angesucht, weil mein Verdienst infolge der Abwanderungen sich empfindlich verringert hat. (keine Kassen mehr, ital. Arzt im gleichen Ort usw.)"


            Hier bricht der handschriftliche „Lebensbericht" des Dr. Simon Aichner aus dem Jahr 1942 am Ende einer Seite ab und – wie bereits eingangs erwähnt - ein eventueller Rest, oder gar eine Reinschrift, ist nicht vorhanden.
            Dr. S. Aichner ist im Jahr 1969 verstorben und der vorliegende Bericht wurde erst ca.. 30 Jahre später aufgefunden, so dass eine nachträgliche Befragung zu eventuellen Ergänzungen nicht mehr erfolgen konnte. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die „Lebensbeschreibung" des Dr. S. Aichner weit über das hinausgeht, was man bereits zu jener Zeit unter einer Bewerbungsunterlage verstand, die zum Zweck einer Stellenbewerbung verfasst wurde.. Andrerseits ist auch nicht verbürgt, dass der Bericht in dieser Form den Behörden in Innsbruck überreicht wurde. Wichtig scheint jedoch, dass die niedergeschriebenen Fakten das aufgewühlte Seelenleben eines Menschen wiedergeben, der seine Heimat erneut aus widrigen Umständen verlassen musste und nun in diesen, von der Innsbrucker Behörde verlangten Lebenslauf sein bereits erlebtes Schicksal von der Seele schreiben wollte. Dies bewirkte offensichtlich auch bei einem gestandenen Mann einen erheblichen seelischen Druck. Offensichtlich fand sich Dr. S. Aichner 1942 genau an derselben Stelle in Innsbruck wieder, nämlich in der Schöpfstraße 4, wohin er etwa 20 Jahre zuvor aus Russland heimgekommen war.
            Keineswegs kann man im Akt der Option die vielfach (speziell von der jüngeren Generation) bis in die jüngste Zeit gerne kolportierte Interpretation ableiteten, die Südtiroler Optanten seien den nationalsozialistischen Verlockungen von Herren gefolgt, die dem Dritten Reich nahe gestanden waren und sich für ihre Option entschieden. Dies musste sich der Verfasser wiederholt in den vergangenen Jahrzehnten anhören. Wie weit dies für andere Optanten zutrifft, kann man nicht beurteilen. Zu bemerken ist auch, dass Dr. S. Aichner zur Zeit der Faschisten obligatorisch in deren Partei P.N.F. (Partito Nazionale Fascista) eintreten musste – dieses Vorgehen wiederholte er aber nicht als Staatsbürger des Dritten Reiches. Das eine Mal hatte ihm offenbar gereicht.
            Erstaunlich ist immerhin die Beobachtung, dass das Leben unter dem Faschismus für Dr. S.A. unerträglicher erscheint, als die vorangegangenen fünf Jahre Gefangen-schaft in Sibirien

            Wie ging es nun nach der Abgabe der „Lebensbeschreibung" in Innsbruck weiter?
            Von der Umsiedlungsbehörde in Innsbruck wurden Dr. Aichner zwei Stellen zur Auswahl angeboten: Frastanz und Hard am Bodensee, beide im Vorarlberg. Er entschied sich für Hard am Bodensee, aber auch diese Existenz sollte nicht lange dauern.

            Dr. Simon Aichner, (prov.) Gemeindearzt in Hard am Bodensee
            Simon Aichner übernahm 1942 kurz nach der Zuweisung der Stelle den Gemeindearzt in Hard bei Bregenz und die Familie zog im Rahmen der Option von Niederrasen bald darauf ebenfall dorthin. In Innsbruck hatte er den Hinweis erhalten, dass die Stelle nur bis zur eventuellen Rückkehr des inzwischen zur Deutschen Wehrmacht einberufenen ordentichen Gemeindearztes gelten sollte.; so war dies eigentlich erneut nur eine provisorische Angelegenheit.

            Dr. S. Aichner nun selbst auch Arzt russischer Gefangener
            Die neue Arbeitsstelle erwies sich als sehr intensive Praxis einer Ortschaft mit etwa 8000 Einwohnern, denen auch größere Siedlungen von inzwischen ausgewanderten Südtirolern sowie ein russisches Gefangenenlager gehörte. Dr. Aichner musste gleich die Erfahrung machen, dass die Vorarlberger im Deutschen Reich kassenärztlich bestens organisiert waren und daher wesentlich mehr und öfter zum Arzt gingen als seine Landsleute seinerzeit im Pustertal.
            Das Gefangenenlager.mit mehreren Baracken lag direkt am Bodensee. Die Zahl der Insassen war allgemein unbekannt und Ihre Kranken gehörten ebenfalls zum Verantwortungs-bereich des neuen Arztes. Krankenbesuche musste er im Lager machen und die ambulanten Patienten kamen etwa wöchentlich in seine Ordination, die unserer Wohnung im Zentrum der Ortschaft angeschlossen war. Sie marschierten zum Arzt im Gänsemarsch durch den Ort, jeweils an der Spitze und am Ende von einem bewaffneten, deutschen Soldaten eskortiert. Zur Behandlung gingen die Gefangenen einzeln, jeweils begleitet von einem der deutschen Soldaten in das Sprechzimmer zum Arzt, während die anderen im Wartezimmer, bewacht vom zweiten Soldaten warten mussten.. Dr. Aichner sprach mit ihnen russisch, ohne dass dies von der Wache beanstandet worden wäre. Für die Gefangenen war dies eine sehr angenehme Überraschung und so war der Arzt bei ihnen recht beliebt. Sie wollten ihm zu Kriegsende, als sie von den anrückenden Franzosen befreit wurden, ein Geschenk in Form eines selbst gebauten Schiffsmodelles überreichen, das er aber (zu seinem späteren Bedauern) mit dem Hinweis ablehnte, sie sollten es jemandem geben, der ihnen dafür etwas ordentliches zu essen geben könnte.
            Die russischen Gefangenen hatten in der Kriegszeit in einem örtlichen Industriebetrieb gearbeitet, in dem sie in der Produktion ein tägliches Soll an bestimmten Stückzahlen zu erfüllen hatten. Bei Nicht Erfüllung gab es Stockschläge an einzelne, willkürlich herausgegriffene Gefangene, die üblicherweise von einem Wehrmachts- oder SS-Angehörigen vorgenommen wurden. Im vorliegenden Fall erledigte dies aber der Firmeninhaber jeweils selbst! Dies alles entgegen alle internationalen Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen.
            Nach dem Einmarsch wurden die Gefangenen über ihre Situation vom französischen Militär eingehend verhört, wobei sie natürlich von den erfahrenen Prügelstrafen berichteten. Der betreffende Betriebsinhaber kam sofort ins Gefängnis und blieb vermutlich auch einige Zeit dort. Seine Frau kam händeringend zum Dr. Aichner, mit der Bitte, er möge doch den Franzosen bestätigen, dass ihr Mann dies niemals getan hätte. Mit den Worten: „Liebe Frau X, Gefangene haut man nicht, ich war selbst jahrelang in Sibirien und ich weiß, wie hilf- und machtlos Kriegsgefangene solcher Willkür ausgeliefert sind. Sie werden verstehen, dass ich da nichts unternehmen werde".

            Flucht über die Berge, zurück nach Südtirol
            Der vormalige Gemeindearzt kehrte bald nach Kriegsende 1946 wirklich nach Hard zurück und S. A. verließ erneut (vorerst allein) seine Praxis und seine Familie, wiederum Richtung Innsbruck, Schöpfstraße 4, mit der Absicht, über die Berge nach Südtirol, möglichst in seine alte Praxis nach Niederrasen zurückzukehren. Dies erwies sich aber als schwierig, denn inzwischen hatte sich ja auch dort die politische Situation stark geändert, es „regierten" inzwischen die Dableiber, die den alten Optanten-Doktor eigentlich nicht mehr so recht haben wollten, stuften sie ihn doch als „Nazi" ein. Die Position eines Gemeindearztes erhielt er daher vorerst nicht, obwohl gar kein neuer Arzt da war, denn der an seiner Stelle seinerzeit installierte italienische Arzt hatte schon bei den Ereignissen zum 8.. September 1943 das Weite gesucht. Erst nach langen Streitigkeiten und mit Hilfe eines Rechts-anwaltes konnte er nach Jahren die Gemeindearzttätigkeit wieder geordnet aufnehmen.
            1959 wurde Dr.S.Aichner von der Gemeinde Rasen Antholz (so nennt sich der Ort im Pustertal heute) in den Ruhestand versetzt und -wie bereits erwähnt- verstarb im Jahr 1969. Ein Jahr zuvor hatten die Gemeinden Rasen-Antholz und Olang ihn noch zum Ehrenbürger ernannt.
            Ein durch die Wirren zweier Weltkriege bewegtes und in Teilen gar abenteuerliches Leben hatte sein Ende gefunden.
            Dr. Aichner galt als gewissenhafter und guter Arzt, wozu wohl die in seinen ersten Berufsjahren in der Gefangenschaft mit Kranken und Verwundeten aller Art erworbene Berufserfahrung beigetragen hatte. Kein Weg zu den entferntesten Berghöfen war ihm zu weit, alle Geburten hatte er mit der örtlichen Hebamme zu machen. Das Krankenhaus in Bruneck war in den zwanziger und dreißiger Jahren noch eine armselige Einrichtung und wohl auch da war er vom Dienst in der Gefangenschaft nicht verwöhnt worden.
            Von seinem Fleiß und seiner Ausdauer als Arzt auch in der Gefangenschaft geben auch die von den Russen über seine Tätigkeit im Krankenhaus von Irkutsk ausgestellten Zeugnisse Auskunft, von denen eines am Ende des Berichtes mit Übersetzung beigefügt ist.

            Nachtrag: 1999, Besuch in Sibirien, auf den Spuren des Dr. Simon Aichner in Irkutsk, Fotos 11-13
            Unsere jüngste Tochter, Mag. Regina Aichner absolvierte in den letzten Jahren die philosophische Fakultät der Universität Salzburg. Ihren schon guten Sprachkenntnissen musste sie noch eine weitere Sprache hinzufügen, wofür sie – im Zuge der jüngsten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen – russisch wählte. Der Zufall wollte es nun, dass ihre Professorin Alfreda Arturowna Tamilowa aus Russland ursprünglich u..a. in Irkutsk am Baikalsee lebte. Auf einen Wunsch hin bat ich Regina, ihre Professorin darauf anzusprechen, ob es in Irkutsk heute noch Spuren aus den damaligen Zeiten gäbe, zumal doch tausende Gefangene in der näheren und weiteren Gegend zusammen mit einem großen Militärspital damals anwesend gewesen waren.
            Ein weiterer Zufall wollte es, dass die Slawistik Salzburg zu jener Zeit ohnehin alljährlich Exkursionen nach Irkutsk veranstaltete und dies somit eine Möglichkeit bot, vor Ort zu recherchieren. Somit machten sich im Sommer 1999 zwölf Studierende für einen Monat auf den Weg nach Sibirien, um ihre Grundkenntnisse in Rus-sisch zu erweitern,während Frau Prof. Alfreda A. Tami-lowa und Regina auf die Spuren der öster-reichisch-ungarischen Kriegsgefangenen machten. Doch lassen wir hier Regina zu ihren Erlebnissen selbst zu Wort kommen: „Die Reise nach Sibirien war etwas ganz besonderes für mich. Abgesehen davon, dass ich noch nie in meinem Leben so weit gereist war, noch nie zuvor in Russland war, trug ich gleichzeitig die Hoffnung, in einer mir völlig unbekannten Gegend Spuren aus meiner eigenen Familie zu finden. Meine Russischlehrerin gab sich wirklich alle Mühe und ich habe es nie herausgefunden, wie sie es schaffte, dass unserer Gruppe Zugang zu jenem Militärspital gewährt wurde, in dem 80 Jahre zuvor mein Großvater seinen Dienst geleistet hatte. Das Spital steht heute noch in Verwendung, verfügt über einen ausrangierten Panzer im Hinterhof, über einen Theatersaal, über eine Bibliothek und über eine mit Teppichen ausgelegte Physiotherapie, deren Gerätschaften allerdings eher an mittelalterliche Folterkammern erinnerten. Leider verfügte das Spital über kein Archiv und es wurde nicht klar, ob sämtliche Dokumente nicht doch in Prag, im tschechischen Staatsarchiv verweilten. In Irkutsk selbst hatte die Stadtverwaltung im örtlichen zeitgenössischen Museum eine Archivarin beauftragt, sich mit den Kriegsgefangenen zu beschäftigen – mehr als ein dünnes Heftchen schien dabei jedoch nicht herausgekommen zu sein. Zu jener Zeit schien mir die Frage nach der tatsächlichen Lagerung der relevanten Dokumente noch unklar. Trotzdem war es mehr als spannend, in dieses historische Gebiet einzutauchen und etwas Staub aufzuwirbeln – in einem Bereich, wo Kriegswirren die schlichte Einteilung in Gut und Böse von vornherein machten."



            (11) in Irkutzk, Eingangstor zum Krankenhaus im Jahr 1999.


            (12) Korridor im Krankenhaus, neu für Europäer: überall Teppiche u. Blumen


            (13) Krankenzimmer, ebenfalls-ausgelegt mit Teppichen

            Erweiterte Anmerkungen zu den Fußnoten
            Nr. der Fußnoten
            1... Diesem Bedauern wird in der Nachkriegszeit von Seiten ehemaliger Gefangener stark widersprochen. Prof. Dr. Hans Weiland, Wien, z.B. würdigt in „Feindeshand, Band I, Seite 159 unter dem Titel „Ärzte in Gefangenschaft" ausdrücklich den hohen Wert der gefangenen Ärzte, denen von den Russen in ihrer Arbeit sogar geholfen wurde. Andernfalls wäre die Todesrate der Gefangenen ins unermessliche gestiegen.
            Hier einige Auszüge aus diesem Aufsatz: „Wohl fast alle Ärzte empfanden es als schweres Unrecht, dass sie nach der Gefangenschaft und der Erledigung ihrer Aufgaben im Bereiche ihrer Hilfsplätze und Spitäler nicht im Sinne der bestehenden internationalen Vereinbarungen sofort oder doch möglichst bald ausgetauscht wurden, Viele litten an dieser Härte sehr und doppelt, wenn sie, wie es meist in Italien geschah, gar nicht als Ärzte im Dienste der Gefangenen-Sanität verwendet, sondern einfach wie alle übrigen Frontgefangenen, in Lager gesperrt, untätig warten und selbst mit hinsiechen mussten.
            Wir „Plennys" (= russisch „Kriegsgefangene") freilich dachten über diese Frage ganz anders. Wir danken dem Schicksal, dass es so viele Ärzte, eigene Ärzte, bei uns ließ. Sie haben in der Gefangenschaft eine so gewaltige, eine so umfassende, so sehr rettende Aufgabe erfüllt, dass sie wie Missionäre des Lebens in den hoffnungslosen Bereichen des Todes standen. Was wäre aus uns Gefangenen geworden, wenn wir nicht doch, zerschossen und hilflos vom Schlachtfeld getragen, auf Hilfsplätzen und in Reservespitälern des Feindes und noch viel mehr in den Elendsbaracken der Lager bei eigenen Ärzten die warmherzige Fürsorge und Pflege teilnehmender Liebe gefunden hätten?. Tausende Mal hing die Rettung der Verwundeten in den Epidemiespitälern von der Liebe ab, die mehr gab als die kühle Leistung der bloßen Pflicht ... Wir danken allen unseren eigenen Ärzten, wir danken auch allen Ärzten unserer Feinde im Weltkrieg, die zu uns helfend als ,Menschen’ kamen."
            1 ... Elsa Brandström, allgemein genannt „Der Engel von Sibirien":
            „Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt trat plötzlich im Auftrag des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz die 1888 geborene Delegierte des Schwedischen Roten Kreuzes, Elsa Brandström, Tochter des damaligen schwedischen Ministerpräsidenten (in neueren Veröffentlichungen wird sie als gebürtige Petersburgerin bezeichnet, was aber zu bezweifeln ist), in die einsamen Kriegsgefangenenlager Sbiriens. Elsa Brandström half, redete Mut zu, linderte die Schmerzen und wich nicht von den vom Infektionstod gezeichneten; mehr noch: sie rüttelte das Weltgewissen auf, lenkte einen Strom von Liebesgaben nach Sibirien, stellte die Verbindung zwischen Kriegsgefangenen und deren Angehörigen in der Heimat wieder her und brachte so Hoffnung, Genesung und Wiederkehr als eine der schönsten Gaben, die ein Mensch anderen geben kann. Durch den Umfang ihrer Leistungen, durch ihre persönliche Haltung und durch den Erfolg, der ihr beschieden war, rückte Elsa Brandström das Bild der Rot-Kreuz-Schwester in jene beglückende Einmaligkeit und in jene Helle, die den an Verzweiflung gebrochenen und Verzagten die Kraft des Widerstandes lieh und in den Augen Sterbender als letzte Versöhnung der entschwindenden Welt begegnete.". So in „Die Waffenlose Macht, Werden und Wirken des Roten Kreuzes in aller Welt", Verlag Traunau, Wels-Wien.
            Elsa Brandström besuchte alle russischen Gefangenenlager, kümmerte sich um das Befinden der Insassen, verschaffte den Ärzten Medikamente und ärztliches Instrumentarium wo und wie wie weit sie immer konnte und in dieser Absicht besuchte sie auch das Krankenhaus in Irkutsk, wo Sie dann auch mit Dr. Simon Aichner zusammentraf.
            Aber es gab auch noch eine Reihe anderer hervorragender Krankenpfleger und -Schwestern, die ihrem aufopferungsvollen Dienst mit größter Hingabe nachkamen. Stellvertretend seien nur noch neben dem schon genannten Dr. Burghard Breitner, dem Max Huber, waren noch die Gräfinnen Nora Kinsky und Alexandrine Üxküll besonders bekannt.
            Es fällt hier auf, dass unter den erfolgreichen Krankenschwestern vornehmlich Töchter aus adeligen Häusern oder sonstigen in der Öffentlichkeit tätigen Familien stammten. Ich denke, dass das nicht unbedingt mit dieser sozialen Position zu tun hatte, sondern mit ihren damit verbundenen Persönlichkeiten: Sie hatten durchwegs eine hervorragende (auch strenge) Erziehung und schulische Ausbildungen genossen, sie beherrschten durchwegs mehrere Sprachen (bei Frau Nora Kinsky sollen es laut Literatur deren über zehn gewesen sein, die sie fließend gesprochen und geschrieben haben soll). Solche Gegenbenheiten waren vor hundert Jahren nur den (weiblichen) Angehörigen der „besseren Herkunft" vorbehalten. Sie sind aber immer noch ausschlaggebend dafür, wenn es gilt, seine Umgebung zu beeindrucken und sich in schwierigen Situationen zu behaupten und durchzusetzen. Inzwischen nennt man das bei den Frauen „Emanzipation", die ebenfalls eine gute Ausbildung als Grundlage erfordert, wenn sie erfolgreich sein soll..
            Frau Hauenstecken: wohl österreichisches Mitglied derselben Delegation „Brandström"

            2 ... Brest-Litowsk
            : Mit dem Sonderfrieden von Brest-Litowsk zwischen der eben ausgerufenen Sowjetunion und Deutschland-Österreich am 3.3.1918 war der Erste Weltkrieg in Russland beendet.
            3 ..Dr. Schneider
            Der Verfasser hat im Jahr 1952 als damaliger Student an der TH Graz Herrn Dr. Schneider, der ebenfalls unversehrt aus der russischen Gefangenschaft heimgekehrt, und nun Prof. für Augenheilkunde an der Uni Graz war, im Auftrag von Dr. Simon Aichner besucht. Prof. Dr. Schneider freute sich natürlich über diese unerwartete Begegnung. Leider kannte ich damals noch nicht den vorliegenden „Lebenslauf".
            4 .. Im politischen Spannungsfeld Irkutsk
            Dazu folgende geschichtliche Bemerkungen aus Lexikon 2000, Wissen Verlag Stuttgart, 1971, Band 11: Irkutsk in den Wirren des russ. Bürgerkrieges 1918-1920.
            Trotz des Friedens von Brest Litowsk gärte es stark in der ganzen neuen Sowiet Union und die revolutionären Ereignisse hatten zu ernstlichen, wirtschaftlichen Störungen geführt. Längst war die Ernährung der Bevölkerung nicht gesichert und Hunderttausende drohten mit Revolution. Gerade als 1918 die Wiederaufbau beginnen sollte, entzündete sich der Bürgerkrieg (1918 bis 1920) am Militäraufstand der zaristischen Generale A. I. Denkin, N.N. Judenitsch und A.W. Koltschak, die von den Allierten Truppen (Tschechoslowakische Legion) und von der Deutschen Wehrmacht (im Süden) unterstützt wurden. Unter Mobilisierung aller Kräfte besiegte die vom sowietischen Verteidigungskommissar Trotzki aufgestellte, „Rote Armee" (offiziell „Bolschewiki genannt) die „Weiße Armee"(offiziell „Menschewiki" genannt) unter Admiral Wassili Koltschak als Konterrevolution.
            Der Russische Admiral Koltschak /1873 – 1920), erschossen von den Roten in Irkutsk, befehligte während des ersten Weltkrieges bis 1916 die Russische Marineflotte im Schwarzen Meer. 1916 wurde er zum Oberbebehlshaber der gesamten Schwarzmeerflotte ernannt. Ende 1917 verhandelte er im Auftrag der Kerensky Regierung als Leiter einer Delegation mit amerikanischen, japanischen und chinesischen Stellen, um diese zur Errichtung einer gemeinsamen, fernöstlichen Front gegen die Bolschewiki zu bewegen. In Omsk begann er 1918 eine antibolschewistische Armee zu organisieren und ließ sich kurz darauf zum Oberbefehlshaber aller zarentreuen Verbände in Russland ausrufen. Mit starken Einheiten stieß er bis über den Ural vor, wurde hier jedoch geschlagen und zum Rückzug gezwungen. 1920 spurte er die Arbeitermiliz in der Nähe der sibirischen Stadt Irkutzk auf, wo er von einem Tribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Nach en Ausführungen Dr. S. Aichner dürften daran in erster Linie die Tschechen beteiligt gewesen sein.
            Diese Ereignisse brachten für die östlich der Baikal-See-Region im Einflussbereich der Menschewiki internierten Kriegsgefangenen erhebliche Nachteile für die nächsten Jahre. Der Westen davon lag im Herrschaftsbereich der Bolschewiki. Zum einen wurden sie für ihre östlich davon gelegenen, europäischen, heimatlichen Hilfsorganisationen, wie Rotes Kreuz unerreichbar und zum anderen wurde auch jeglicher Versuch einer Heimführung gestoppt. Hier trat nun das Internationale Rote Kreuz in Genf auf Drängen Österreichs und Ungarns in Aktion, indem es schon 1919 versuchte, über seine Mitglieder in den USA und in Japan vom Osten her in das Gebiet der Menschewiki zu kommen, um die Rückführung der Gefangenen wieder in Gang zu bringen, indem es versuchte, Personen des diplomatischen oder konsularen Dienstes, zur Hilfe in den Bemühungen, die Gefangenen heimzubringen, bzw. ihnen zunächst zu helfen, einzuspannen. Die bedeutendste Mission war jene des Roten Kreuzes in Genf unter der Führung von Dr. George Montandon. Siehe dazu Pos. 6
            Inzwischen waren in Irkutsk auch die politischen Veränderungen in Europa nach dem Kriegsende 1918 bekannt geworden. Besonders unter den Tirolern herrschte große Betroffenheit über den Verlust Südtirols nach Italien. Das Lagerleben hatte sich –wie schon erwähnt- unter den Rotarmisten weitgehend normalisiert und so überlegten nicht wenige, nicht mehr nach Südtirol zurückzukehren, sondern nach einer eventuellen Entlassung lieber in Sibirien zu bleiben. Auch Dr. Simon Aichner gehörte zu diesen und sc hrieb solche Überlegungen sogar seiner Frau nach Innsbruck. Auch er konnte sich in Irkutsk frei bewegen und zufolge seiner inzwischen erworbenen Sprachkenntnisse frequentierte er die russische Gesellschaft in Irkutsk. Dem Unterzeichneten Verfasser gestand er sogar einmal, dass er in seinem Leben nie wieder so eine soziale Position erreichte, wie damals in Irkutsk.
            5 .. Alja Rachmanova
            Alja Rachmanowa, russische Emigrantin in Wien in den zwanziger Jahren beschreibt das Gesellschaftsleben in der Zeit der russischen Revolution in mehreren Romanen, z.B. Studenten, Liebe, Tscheka und Tod und andere.
            6... Mission Dr. Montandon (siehe „In Feindes Hand", II, Seiten 370 ff)
            „Dr. Montandon brach im April 1919 von Bordeaux in Richtung Japan auf, wo er Anfang Juni in Yokohama anlangte. Japan war die wichtigste Macht, von deren Wohlwollen hinsichtlich der Gefangenenheimkehr viel abhing. Es hat selbst auch immer gegen die Gefangenen in loyaler Weise gehandelt und in Ostasien einige Lager , wie auch die Vereinigten Staaten in Verwaltung übernommen; die Behandlung war streng, aber gerecht, die Ordnung peinlich, aber für die Gefangenen, die unter der Schlamperei der Russen mehr gelitten hatten, als unter deren Niedertracht, angenehm".
            Dr. Montandon bereiste nun von Wladiwostok aus sowohl das Gebiet der Menschewiki als auch der Bolschewiki und stellte fest, dass deren Auseinandersetzungen noch nicht beendet waren und insbesonders, dass für die Gefangenen im Gebiet der Menschewiki größte Gefahr bestand. Es ist auch aus dem Bericht Dr. Simon Aichner zu entnehmen, dass die Gefangenen ein Leben unter den Bolschewiki vorzogen, die ihnen, wie er berichtet „kein Haar krümmten". Dr. Montandon traf auch mit Elsa Brandström zusammen und konnte größere Mengen an Kleidungen und Lebensmittel für die Gefangenen beschaffen, sowie folgende Zahlen an noch heimzuführenden Gefangenen ermitteln:
            148.000 Österreicher 18.500 Reichsdeutsche 3.500 Türken 10 Bulgaren
            Insgesamt also 170.010 Mann.
            Die Gesatzahl der Gefangenen aus der K.u.K. Armee im Russlandfeldzug 1914-1917 ist auch aus der neuesten Literatur nicht bekannt. Die Schäzungen bewegen sich zwischen 1.900.000 und 2.300.000.
            Erst seit dem Fall des kommunistischen Regimes Ende der 80er Jahre sind die versch. Archive für Ausländer zugänglich geworden, und damit gibt es erst in den 90er Jahren entsprechende Literatur, insbesonders in Form von Dissertationen versch. Universitäten. Bezeichnend darin ist vielfach der darin abhanden gekommene, persönliche Bezug der Autoren zu den einzelnen geschichtlichen Ereignissen und ihre Wirkung auf die Menschen selbst, womit darin im Wesentlichen darin kaum zusammenhängende, individuelle Schilderungen zu Gunsten von sprunghaften Kurzinformationen und Zahlenreihen aus entsprechenden Archiven zu finden sind. Insgesamt fehlt stets eine durchgehende Linie in Forme von Erlebnisberichten. Zwangsläufig entstand ein vielfach farbloser und nüchterner Stil der reinen Historiker Kultur.
            Die ganze Rückführung der Gefangenen nach Österreich gestaltete sich sehr komplex und in vielen Gruppen, und deren Schilderung im einzelnen würde den Rahmen des vorliegenden Berichtes sprengen. Während aus Westrußland der Heimkehrtransport gleich 1917 nach dem Frieden von Brest Litowsk einsetzet, gerieten die Gefangenen in Sibirien in die Auseinandersetzungen der russ. Revolution zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki, deren Grenze geradewegs durch den Baikalsee führte. Die Heimfahrten (an denen die Russen selbst wegen der wertvollen Arbeitskräfte überhaupt nicht mehr interessiert waren) verzögerten sich bis ins Jahr 1922.
            Dr. Simon Aichner kam im Rahmen der „Mission Montandon" mit dem Frachter „Frankfurt" mit der Gruppe „Irkutsk II" ab Lager Werchne-Udinsk ab 24. September 1920 über Japan, China, Indien, Suez-Kanal im Februar 1921 nach Triest, zusammen mit 720 Mann nach Hause zurück, wie auch seinem Bericht zu entnehmen ist. Der Frachter gehörte den Japanern, die für die Überfahrt etwa 150 US-Dollar verlangten, die u.a. das US-Amerikanische Rote Kreuz vorwiegend von Juden in New York und anderen Grossstädten der USA an die zehn Millionen US Dollar gesammelt hatte. Je heimgeführten Gefangenen verlangten die Japaner an die 160 US Dollars. Dazu ist zu ergänzen, dass sich im Österreichisch-Ungarischen Heer viele Juden sowohl im Mannschafts- als auch im Offiziersrang gedient hatten. Weitere große Beträge wurden in den nordischen Staaten gesammelt. „In Feindes Hand, Band II".

            Bilder- und Literaturnachweise

            Bildernachweis:
            (1) Heimathaus Dr. Simon Aichner in Terenten, ca. 1910, Privatbesitz
            (2) Dr. Simon Aichner, ca. 1955, Privatbesitz
            (3) Elsa Brandström, aus „In Feindes Hand", Band II
            (4) Gräfin Kinsky, aus „Die Waffenlose Macht", Werden und Wirken des Roten Kreuzes
            (5) Patienten in russ. Lazarett, aus „In Feindes Hand", Band II „
            (6) Leo Trotzky, „In Feindes Hand", Band II
            (7) Dr. S. Aichner mit Kollegen in sibir. Lager , Privatbesitz
            (8) Frachter Frankfurt, aus „In Feindes Hand", Band II
            (9) Dr. Montandon, aus „In Feindes Hand", Band II
            (10) Eingangstor zum KH in Irkutsk 1999
            (11) Im Krankenhaus in Irkutsk 1999, Korrodor
            (12) idem, Krankenzimmer

            Literaturnachweis:
            Lebensbeschreibung Dr.. Simon Aichner 1942, Privatbesitz
            „Lexikon 2000
            „In Feindes Hand", Band I, , Die Gefangenschaft im Weltkrieg in Einzeldarstellungen, Zusammengestellt von Prof. Hans Weiland und Dr. Leopold Kern, Herausgegeben von der „Bundesvereinigung der ehemaligen Österreichischen Kriegsgefangenen" in Wien
            „In Feindes Hand", Band II
            „Die Waffenlose Macht", Werden und Wirken des Roten Kreuzes, Verlag Rudolf Traunau – Wels-Wien

            Zeugnis zur Tätigkeit im Spital in Irkutzk 1918-1920 des Dr. Aichner.
            Anmerkung: Den gefangenen Ärzten wurden von den Spitalsverwaltungen jeweils Zeugnisse über ihre berufliche Tätigkeit ausgestellt. Diese konnten dann in der Heimat beglaubigt werden. Nachstehend als Beispiel eines davon aus der Spitalsverwaltung Irkutsk, hier „Tschechisches Spital Nr.1" genannt, da es ausschließlich von Tschechen besetzt war. Nachfolgend die Übersetzung der Beglaubigung vom Gericht in Bozen aus dem Jahr 1921 und die deutsche Übersetzung des Verfassers. Das Original ist vorhanden, wie alle weiteren Bestätigungen der anderen Lagerkranenstationen

            Bestätigung Nr. 4579
            Ausgefertigt vom tschechoslowakischen Militärspital Nr. 1 an den Kriegsgefangenen Arzt des österreichischen-ungarischen Heeres, Dr. Simon Aichner, welcher im Dienste der therapeutischen Abteilungen der Tschechoslowakischen Spitäler in der Zeit vom 25. November des Jahres 1918 bis zum Tag 20 Januar dieses Jahres gestanden hat. In dieser Tätigkeit hat er eine gute klinische Ausbildung bewiesen und einen enormen Einsatzwillen gezeigt.

            Das Verhältnis des Dr. Aichner zu den Kranken stand über jede Belobigung, da er stets eine große Popularität und Sympathie bei allen unseren Kranken genoss.
            In diesem Sinne bestätige und unterschreibe ich unter Beifügung des amtlichen Siegels.
            Stadt Irkutzk, am 20. Januar des Jahres 1920.

            Gezeichnet:
            Der Chefarzt des Tschechoslowak. Militärspitals Nr.1, der Oberfeldveterinär ...(Unterschrift)
            Für den Hauptverwalter, der Assistenzarzt (Unterschrift)
            Der Sekretär des Tschechischen Spitals (Unterschrift)


            Anschrift des Autors:
            Dr. Ing. Peter Aichner
            Weinbergstraße 39
            I-39042 Brixen
            Tel. ++390472-836014,
            e-mail funkbase-peter@gmx.net